Tuesday, September 12, 2006

oneitisem one

Heute regiert der Müllwart
Deutschlands ältestes Studentenwohnheim wird 475 Jahre alt. In der einstigen Pfarrerschmiede in Marburg herrscht Basisdemokratie Von Manuel J. Hartung

Wer die Geschichte der Hessischen Stipendiatenanstalt in Marburg, des Collegium Philippinum erzählen will, muss zwei Geschichten erzählen. Eine ganz alte und eine ziemlich neue.

Die alte ist rasch erzählt: 1529 forderte Philipp von Hessen die Städte und Flecken seines Herrschaftsgebietes auf, Studenten nach Marburg zu schicken und mit einem Stipendium von 15 Gulden zu versehen. 1546 zogen die Studenten in ein Wohnheim im Marburger Kugelhaus. Das wurde 1811 abgerissen. Zwar gab es danach noch Stipendiaten, doch bezogen sie erst zum Sommersemester 1946 wieder für längere Zeit ein festes Domizil, als sie den Marstall des Marburger Schlosses in Beschlag nahmen. Hier, unter der illustren Adresse "Schloss 4, 35037 Marburg" leben noch heute 39 Stipendiaten - in einem Haus mit grob behauenen Steinen, einer mächtigen Pforte mit vier Säulen und Löwenköpfen, hoch über der Stadt, mit Blick auf die Elisabethkirche und auf die Oberstadt, in der sich Fachwerkhäuser nebeneinander drängen. Im Juni feiert das Wohnschloss sein 475-jähriges Bestehen.

Obschon das Collegium als "weitere Einrichtung" der Marburger Universität gilt - genauso wie das Uni-Museum oder das Sprachenzentrum -, ist es eng verbunden mit dem Protestantismus: Früher war die Stipendiatenanstalt eine Kaderschmiede für Pfarrer. Heute steht das Wohnheim Studenten aller Konfessionen, Studiengänge und Nationalitäten offen. Noch nicht einmal gute Noten spielen eine Rolle. Doch ein besonderes Büchergeld können fast ausschließlich Protestanten bekommen; der Ephorus, der oberste Hausherr, ist ein Theologieprofessor, die evangelische Kirche ernennt zudem einen jungen Pfarrer zum Repetenten. Früher sollte er Latein- und Griechischvokabeln wiederholen, heute ist der Repetent Lars Hillebold, 32, eher Geschäftsführer, Ober-Hausmeister und Seelentröster in einem.

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An dieser Stelle muss man anfangen, die neue Geschichte zu erzählen. Denn so wie die Satzung des Heimes, das Regulativ von 1849, kürzlich durch eine neue abgelöst wurde, so wie in der Bibliothek des Collegiums neben der Theologischen Enzyklopädie auch der Schönfelder steht, so wie seit 1973 auch Frauen in der Anstalt leben, so atmet die ganze Stipendiatenanstalt den Geist der siebziger Jahre - den Geist von Selbstverwaltung, Mitbestimmung und Basisdemokratie.

Die Stipendiatenanstalt ist eine große Wohngemeinschaft, in der alle Alltagspflichten institutionalisiert sind: Es gibt drei Müllwarte, die die beiden Kisten mit leeren Flaschen im Schlossflur - ehemals gefüllt mit Sekt von Freixenet, Wodka von Zaradka und Gin vom Discounter - eigentlich wegtragen sollten. Es gibt einen Bier-, einen Sport- und einen Computerwart. Einer kümmert sich auch um den schönsten Teil des Wohnheims, den Paradiesgarten, den niemand anderes betreten kann. Wer den Abwasch macht, kann entscheiden, ob er nun lieber "informell" spült oder "formell". Und wer eine Party veranstalten will, muss dafür eine Mehrheit in der montäglichen "Ha-Vau", der Hausversammlung bekommen, notfalls mit einer Kampfabstimmung.

Neben dem gemeinsamen Mittagstisch ist diese Versammlung der Mittelpunkt des Lebens. Hier entscheidet die Hausgemeinschaft, wer einziehen darf. Dreißig Leute haben sich beim letzten Mal um vier Plätze beworben. Ein Zimmer kostet bloß 74 bis 124 Euro. Drei Wahlgänge brauchte es, bis die neuen Mitbewohner feststanden.

24 der 39 Bewohner sitzen an diesem Montag in der "Ha-Vau". Zehn von ihnen tragen Birkenstock, manche Mädchen trinken Karamalz oder Meistermalz, ein Junge hat ein Becks unter dem Stuhl stehen, ein anderer ein Jever. Eine Glocke bimmelt: Sitzungsbeginn. Erster Antrag: Eine Bewohnerin will mit ihrem Hebräischkurs eine Cocktailparty veranstalten. Sie will dafür einen Raum haben und verspricht, um halb eins die Musik leise zu drehen. Abstimmung, zwei enthalten sich, der Rest ist dafür. Ein Paar, es hat sich im Collegium lieben gelernt, will im Sommer heiraten und einen Raum für die Party. Auch den gewährt die Versammlung, obwohl der Antrag nicht fristgerecht eingereicht war, wie der Bräutigam in Birkenstocks gesteht.

Auch Viola Rosche trägt im Winter Sandalen und trinkt Malzbier. Sie ist 21, studiert Englisch und Geografie und findet es "ganz genial, dass man hier so unterschiedliche Leute kennen lernt". Das muss sie sagen, denn sie ist gewählte Tutorin, so etwas wie die Sprecherin der Anstalt. Und sie muss heute durch die "Ha-Vau" führen. Nach den Anträgen steht "Ämter-Feedback" auf der Tagesordnung, und Viola Rosche liest aus einem Ordner mit vielen Zetteln vor, auf die jeder etwas schreiben konnte über den Bierwart oder den Müllwart oder seine Mitbewohner. Meistens ist das ziemlich nett. "Schön ist das Eingehen auf Produktwünsche", heißt es etwa. Manchmal ist es auch mahnend: "Die Ordnung könnte besser sein." Und einmal steht da auch was von "Pizzakarton-Arschlöchern". Viola Rosche liest schnell vor, sie leiert ein bisschen. "Die Sachen kommen von der Betonung falsch rüber", klagt eine Birkenstock-Trägerin im dicken Wollpulli. Ihre Sitznachbarin pflichtet ihr nickend bei.

Viola Rosche zieht die Augenbrauen hoch und sagt: "Also, ich hab das nicht zehnmal vorher vorlesen geübt." Die Birkenstock-Trägerin besteht darauf, dass das richtige Verständnis wichtig sei, und fordert deutlicheres Vorlesen ein. "Es ist doch nicht so wichtig", ruft plötzlich Gordian Schweitzer dazwischen, "dass das in jambischen Hexametern vorgetragen wird." Ein paar Jungs lachen, einige Mädchen schauen Gordian streng an. Die Birkenstock-Trägerin lenkt ein: "Ich wollte Viola nicht persönlich angreifen."

Gordian Schweitzer, der Zwischenrufer, ist 28 Jahre alt, studiert Geschichte und ist Collegiat in der zweiten Generation; schon sein Vater hat im Schloss gewohnt, von 1968 bis 1972. "Die Basisdemokratie kann ganz schön anstrengend sein", sagt er. Nichtsdestoweniger gefällt ihm gerade der Geist der Mitbestimmung. "Es ist anders als in einer Verbindung: Wir sind eben keine Einrichtung zur Förderung des Protektionismus mit Füchsen und diesem ganzen Quatsch."

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Als sonderlich privilegiert empfindet sich Schweitzer auch nicht, trotz der illustren Adresse auf seinem Briefkopf: "Mitten im Winter fällt die Heizung aus, acht Leute teilen sich Bad und Küche - besondere Annehmlichkeiten sind das nicht."

Die "Schlosser", wie manche in Marburg sagen, seien eine besondere Gemeinschaft, findet der Student: Es gibt viele Pärchen, die Bewohner fahren zusammen in den Urlaub, und ganz am Anfang ihrer Schlosszeit schlafen auch zwei Collegiaten in einem Zimmer. An vielen Mittwochabenden reden die Stipendiaten mit prominenten Besuchern, Fernsehpfarrer Jürgen Fliege etwa oder Marburger Politikern.

Manchmal überschneiden sich aber auch die alte und die junge Geschichte. Dann, wenn Gordian Schweitzer daran denken muss, wer wohl vor Jahrzehnten in seinem Zimmer gewohnt hat. Dann, wenn die Bewohner mal wieder in ihr Regulativ schauen müssen, weil eine so genannte Präsentationsstadt einen Bewohner für die Anstalt vorschlägt, einer der Flecken und Orte, die Philipp von Hessen aufgefordert hatte, Studenten nach Marburg zu entsenden. Dann, wenn die neuen Mitbewohner eine Art Initiationsritus durchstehen müssen: Früher mussten die Neuen in eine mit Eis gefüllte Wanne steigen, heute machen sie "Geschicklichkeitsspiele bei einem bunten Abend", wie Gordian Schweitzer sagt. Einmal mussten die Neuen Marburg nachbauen, einmal einen giftgrünen Trank runterkippen. "Nichts Ekliges", wehrt Gordian Schweitzer ab und beschwört den Geist der Mitbestimmung und Basisdemokratie, "die wirklich rauen Sitten sind schließlich seit den siebziger Jahren vorbei."

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